Da ist die Struktur im strukturarmen Raum. Das Dorf ist für manche Heimat, eigentlich für die meisten. Also für die, die noch da sind und für die, die immerhin kommen um die Eltern zu besuchen. Wenn Platz im Gefrierschrank ist, wird geschlachtet. Wenn man singt, dann nicht, weil es schön klingt, sondern weil es sich richtig anfühlt. Das Kind vom Pfarrer kann nicht Rollschuh laufen und wird es auch niemals lernen. Aber das ist kein Problem, denn der Bus kommt ja um 7:24 Uhr. 30 Jahre nach dem Ende der DDR blickt „NOR.“ auf den Stand der Dinge in einem thüringischen Dorf.
Dokumentarisches Theater mit Objekten über das Leben an Orten, wo alle immer nur durchfahren.
Idee und Realisierung: Josephine Hock
1. Preis
NOR. Vom Kirchturm kann man die Zugspitze sehen
Jury:
Um es gleich am Anfang zu verraten: die Zugspitze im Titel ist nicht DIE Zugspitze. NOR. führt uns in den ländlichen Raum, in diesem Fall Thüringen wie ohne Probleme am Kloß erkannt werden kann. Auf der ansonsten fast leeren Bühne prangt nämlich an der hinteren wand in neongrünen Buchstaben der Slogan „Ohne Kloß nichts los.“ Was es damit auf sich hat, wird sich später im Stück zu erkennen geben.
Das ebenso filigran konstruierte wie gespielte Stück kann durchaus auch in oder für Niederbayern, Schleswig-Holstein oder Mecklenburg-Vorpommern erzählt werden. „Wolfserwartungsland“ ist überall. Es ist eine Liebeserklärung an die Heimat und an ein Dorf wie Bullerbü, nur deutlich weniger romantisch. Es berichtet minutengenau wie die Dinge sind und beschönigt nichts, aber sie tut dies respektvoll und verletzt niemanden. Weder das Dorf, noch seine Bewohner. Josephine Hock überrascht und bewegt die Zuschauer immer wieder. Binnen weniger Minuten sind sie in das präzise Spiel und den trockenen Humor der Dorfchronistin auf Rollschuhen versunken wie in ein eigenes Universum. Ein Universum, das verlässlich nach jedem Halbrund von den Gleisen in Hälften geteilt wird und in dem Herr Flick bald hinter der Kirchenorgel stecken bleiben wird und „uralt“ schon mal durch „fasttot“ ersetzt wird.
Josephine Hock hält fast eine Dreiviertelstunde lang die darstellerische Spannung und damit auch die Aufmerksamkeit ihres Publikums. Sie kann Komik, mädchenhaft, bierernst und saukomisch – und sie kann: Pausen. Sie hat ein überaus feines Sensorium für Stille, für die unausgesprochene Frage im Raum: Ist das jetzt so auf dem Land oder ist das eine Pointe?
Für dieses perfekte und homogene „Gemisch“ aus grandioser Beobachtung, grandiosem und pointiertem Spiel, wohl dosiertem Einsatz von Sprache und Stimme und nicht zuletzt einer phantasievollen und hintersinnigen Ausstattung erhält NOR. Vom Kirchturm kann man die Zugspitze sehen den 1. Preis des diesjährigen Theaterfestivals „Freisprung“.
Ihr Mund ist wie eine schmale Tür gesetzt, angenehm in seiner Zier, ihre Zunge ist scharf wie ein Schwert, ihre Worte sind glatt wie Öl, ihre Lippen süß von aller Süße der Welt. Sie ist die Schlange, die Hure, die Unkeuschheit, Mutter der gemischten Vielzahl. Sie ist Lilith. Ein Trash-Schöpfungsmythos auf der Suche nach Freiheit. Mit Erde, Spielzeugtieren, einem aufblasbaren Mann, einem Sofa, zehn Dildos und vielen anderen nützlichen Dingen. Eine Stückentwicklung auf der Basis von Talmud- & Bibeltexten, “Adam & Eva” von Peter Hacks und eigenen Texten von Nathalie Wendt, Friederike Förster und Lilith Maxion.
2. Preis
Lilith – Mutter der gemischten Vielzahl
Jury:
Wann hat Ihr Dildo das letzte Mal mit Ihnen gesprochen? Und was hat er gesagt? Willkommen in der „Dildo-Hölle“.
Die beiden Darstellerinnen haben Bibel- und Talmudtexte und noch das ein oder andere Versatzstück, das ihnen vor die Flinte gekommen ist, zu einem wilden, trashigen und rotzfrechen Schöpfungsmythos-Mosaik verarbeitet.
Adam und Eva, dazwischen ein sprechendes Sofa. Und von einer Riege Schleichtiere bis zur obligaten aufblasbaren Gummipuppe steht alles auf der Besetzungsliste. Dazu ein Haufen Erde und ein Sprühgerät – und das alles meistern die beiden Spielerinnen darstellerisch und stimmlich auf hohem Niveau.
Trotz aller Anarchie, auch in den Dialogen mit GÖTT (sic!) und bei ohrenbetäubend lauter Musik, hält der Text in den entscheidenden Momenten die Waage und die Balance – wenn die Gürtellinie erreicht scheint, gibt es eine völlig überraschende Wendung. Und selten haben wir die Synchronisation eines Orgasmus (also Adams zumindest!) zweier Puppen so rhythmisch und technisch präzise gehört und gesehen wie in dieser Produktion.
Für diese chirurgisch geplante Choreographie, die sich für dem Betrachter als ein wildes und vollkommen außer Kontrolle geratenes Tohuwabohu präsentiert, für diesen großen, ausgelassenen Spaß mit doppeltem Boden erhalten Lilith Maxion und Nathalie Wendt für „Lilith – Mutter der gemischten Vielzahl“ den 2. Preis des diesjährigen Theaterfestivals „Freisprung“.
Es spielen: Lilith Maxion und Nathalie Wendt
Spielleitung: Friederike Förster
Paulina und Bianca schlagen sich durchs Unterholz ihrer aufblühenden Sexualität. Im schwarzen Wald begegnen sie nicht nur Giftpilzen, sondern auch einer verlogenen und brutalen Erwachsenenwelt.
Ein surrendes Marionetten- und Schauspieltheater über Erwachen und Erschrecken.
Ausstattung, Figurenbau: Eva Vinke, Christian Werdin, Simone Pätzold
3. Preis
Von Mädchen und Strümpfen
Eva Vinke nach „Weiße Ehe“ von Tadeusz Rózowitz
Jury:
Es könnte nicht schöner sein: die kleine Paulina erobert zu barocken Klängen in ebensolchem Kostüm und Maske ihren Geburtstags-Geschenketisch. Dieser ist ideenreich und bunt verspielt gedeckt, die Kleine kann sich kaum entscheiden, in welche Tüte, in welches Päckchen sie zuerst sehen soll. Ein ganzes Füllhorn scheint sich hier in gnadenloser Lieblichkeit entleert zu haben. In einem Karton sind schwarze Nylonstrümpfe und die Stimme aus dem Off sagt: anziehen.
Wenn man es nicht schon geahnt hätte, wäre es in diesem Moment klar: in und hinter dieser herrlich kreierten Opulenz steckt eine Bedrohung, etwas Hartes, Unbarmherziges.
Und wo auf dem Tisch alles unter der pastelligen Marzipandecke des Kindergeburtstages verschwindet, zeigt sich den beiden Freundinnen Paulina und Bianka unter dem Tisch die andere Seite der Welt der Erwachsenen.
Eva Vinke gelingt mit einem großen theatralen und spielerischen Facettenreichtum die Darstellung eines unfassbaren menschlichen Abgrundes, dabei lässt sie jedoch dem Betrachter immer Raum für sein „inneres Kino“ und seine eigenen Rückschlüsse.
Für dieses szenische Ausloten eines großen und derzeit vielfach in der Diskussion stehenden Themas erhält sie den 3. Preis des diesjährigen Theaterfestivals „Freisprung“.
Mobber sein ist eine Krankheit
Steven Nowacki
… zeigt die Jugend in ihrer Blüte, sowie die chaotische Gefühlswelt der Mobber und Gemobbten.
„Den du beneidest, nimm dir zum Vorbild. Aber … entwürdige dich und andere nicht …“
Ein studentisches Projekt, welches sich mit dem Thema Mobbing auseinandersetzt. Frei nach dem Motto: „Versuch macht klug.“
Mit Cynthia Hösterey, Annika Utzelmann, Steven Nowacki, Kevin Slavicek, Nico Dietrich
Benno Ohnesorg – Ein Chor erinnert
Der Student und werdende Vater Benno Ohnesorg wurde am 2. Juni 1967 aus kurzer Distanz erschossen. Ein Sprechchor erinnert an den Tod des jungen Mannes und die damaligen Ereignisse. Ausgangspunkt der Erzählung ist eine Montage aus Originaldokumenten wie Zeitungsartikeln und Zeitzeugeninterviews. Das Projekt untersucht, wie ein Gedenken an Benno Ohnesorg heute möglich gemacht werden kann und was dieser Mord für uns heute noch bedeutet.
Die Uraufführung fand anlässlich des 52-jährigen Jahrestages der Ermordung Benno Ohnesorgs am Tatort in der Krummen Strasse 66/67 in Berlin-Charlottenburg statt.
Ein Projekt von Simon Köslich & Winternachtstraum e. V.
im öffentlichen Raum, Dauer: ca. 20 Min.
mit Marianne Thies, Simon Köslich, Lisa Flachmeyer und Victor Nilsson
BaseAndFly
‚BaseAndFly‘ ist eine einzigartige Bewegungsform. Das FlyingBase-Duo lässt Himmel und Erde – sowie Zuschauer – etwas weiter zusammenrücken und unterhält mit Charme, Humor und atemberaubender Akrobatik.
Pride & Prejudice
nach Jane Austen
Heirat als Ziel Nummer eins: In vielen Kulturen heute noch der Standard für Frauen. Im Idealfall ist die Heirat romantisch oder gar symbolisch motiviert, wenn man Pech hat, steckt Kalkül dahinter. Kalkül des Partners, der Eltern, der eigenen Person. Jane Austen verarbeitet „very ahead of her time“ genau dieses Thema in Pride & Prejudice. Geballte Wut in sittsamer Sprache ist der Widerspruch, der Jane Austen auszeichnet.
mit Şafak Şengül
Frau Holle außer Kontrolle
Max Howitz
Kiekerikiiii, die olle Holle fährt wieder Ski. Goldmarie schmeißt den Laden ja schon. Aber irgendwas ist faul. Richtig faul. Ist es Pechmarie? Oder die ganze Geschichte? Das Grimms-Märchen wird ordentlich durchgeschüttelt — von einem Mann, der vier Frauen und einen Hahn verkörpert. Und er stellt uns die Frage: Könnte Faulheit vielleicht die Welt retten?
Setzt euch, lehnt euch zurück und schaut Max Howitz bei schweißtreibender Arbeit zu.
Regie: Rico Wagner / Text: Stefan Wipplinger, Fanny Sorgo
JURY
Martina Bade
Claudia Roick (Sängerin)
Peter Mann (Choreograph)
Christoph Lange (Regisseur)
Markus Möller (Schauspieler)