Die Preisträgerinnen 2019 und die Begründung der Jury
© Beate Nelken
Die Preisträgerinnen 2019
- Josephine Hock NOR. Vom Kirchturm kann man die Zugspitze sehen.
Um es gleich am Anfang zu verraten: die Zugspitze im Titel ist nicht DIE Zugspitze. NOR. führt uns in den ländlichen Raum, in diesem Fall Thüringen wie ohne Probleme am Kloß erkannt werden kann. Auf der ansonsten fast leeren Bühne prangt nämlich an der hinteren wand in neongrünen Buchstaben der Slogan „Ohne Kloß nichts los.“ Was es damit auf sich hat, wird sich später im Stück zu erkennen geben.
Das ebenso filigran konstruierte wie gespielte Stück kann durchaus auch in oder für Niederbayern, Schleswig-Holstein oder Mecklenburg-Vorpommern erzählt werden. „Wolfserwartungsland“ ist überall. Es ist eine Liebeserklärung an die Heimat und an ein Dorf wie Bullerbü, nur deutlich weniger romantisch. Es berichtet minutengenau wie die Dinge sind und beschönigt nichts, aber sie tut dies respektvoll und verletzt niemanden. Weder das Dorf, noch seine Bewohner. Josephine Hock überrascht und bewegt die Zuschauer immer wieder. Binnen weniger Minuten sind sie in das präzise Spiel und den trockenen Humor der Dorfchronistin auf Rollschuhen versunken wie in ein eigenes Universum. Ein Universum, das verlässlich nach jedem Halbrund von den Gleisen in Hälften geteilt wird und in dem Herr Flick bald hinter der Kirchenorgel stecken bleiben wird und „uralt“ schon mal durch „fasttot“ ersetzt wird.
Josephine Hock hält fast eine Dreiviertelstunde lang die darstellerische Spannung und damit auch die Aufmerksamkeit ihres Publikums. Sie kann Komik, mädchenhaft, bierernst und saukomisch – und sie kann: Pausen. Sie hat ein überaus feines Sensorium für Stille, für die unausgesprochene Frage im Raum: Ist das jetzt so auf dem Land oder ist das eine Pointe?
Für dieses perfekte und homogene „Gemisch“ aus grandioser Beobachtung, grandiosem und pointiertem Spiel, wohl dosiertem Einsatz von Sprache und Stimme und nicht zuletzt einer phantasievollen und hintersinnigen Ausstattung erhält NOR. Vom Kirchturm kann man die Zugspitze sehen den 1. Preis des diesjährigen Theaterfestivals „Freisprung“.
© Beate Nelken
2. Lilith Maxion, Nathalie Wendt, Friederike Förster Lilith – Mutter der gemischten Vielzahl
Wann hat Ihr Dildo das letzte Mal mit Ihnen gesprochen? Und was hat er gesagt? Willkommen in der „Dildo-Hölle“. Die beiden Darstellerinnen haben Bibel- und Talmudtexte und noch das ein oder andere Versatzstück, das ihnen vor die Flinte gekommen ist, zu einem wilden, trashigen und rotzfrechen Schöpfungsmythos-Mosaik verarbeitet. Adam und Eva, dazwischen ein sprechendes Sofa. Und von einer Riege Schleichtiere bis zur obligaten aufblasbaren Gummipuppe steht alles auf der Besetzungsliste. Dazu ein Haufen Erde und ein Sprühgerät – und das alles meistern die beiden Spielerinnen darstellerisch und stimmlich auf hohem Niveau.
Trotz aller Anarchie, auch in den Dialogen mit GÖTT (sic!) und bei ohrenbetäubend lauter Musik, hält der Text in den entscheidenden Momenten die Waage und die Balance – wenn die Gürtellinie erreicht scheint, gibt es eine völlig überraschende Wendung. Und selten haben wir die Synchronisation eines Orgasmus (also Adams zumindest!) zweier Puppen so rhythmisch und technisch präzise gehört und gesehen wie in dieser Produktion.
Für diese chirurgisch geplante Choreographie, die sich für dem Betrachter als ein wildes und vollkommen außer Kontrolle geratenes Tohuwabohu präsentiert, für diesen großen, ausgelassenen Spaß mit doppeltem Boden erhalten Lilith Maxion und Nathalie Wendt für „Lilith – Mutter der gemischten Vielzahl“ den 2. Preis des diesjährigen Theaterfestivals „Freisprung“.
© Beate Nelken
3. Eva Vinke Von Mädchen und Strümpfen
Es könnte nicht schöner sein: die kleine Paulina erobert zu barocken Klängen in ebensolchem Kostüm und Maske ihren Geburtstags-Geschenketisch. Dieser ist ideenreich und bunt verspielt gedeckt, die Kleine kann sich kaum entscheiden, in welche Tüte, in welches Päckchen sie zuerst sehen soll. Ein ganzes Füllhorn scheint sich hier in gnadenloser Lieblichkeit entleert zu haben. In einem Karton sind schwarze Nylonstrümpfe und die Stimme aus dem Off sagt: anziehen. Wenn man es nicht schon geahnt hätte, wäre es in diesem Moment klar: in und hinter dieser herrlich kreierten Opulenz steckt eine Bedrohung, etwas Hartes, Unbarmherziges.
Und wo auf dem Tisch alles unter der pastelligen Marzipandecke des Kindergeburtstages verschwindet, zeigt sich den beiden Freundinnen Paulina und Bianka unter dem Tisch die andere Seite der Welt der Erwachsenen.
Eva Vinke gelingt mit einem großen theatralen und spielerischen Facettenreichtum die Darstellung eines unfassbaren menschlichen Abgrundes, dabei lässt sie jedoch dem Betrachter immer Raum für sein „inneres Kino“ und seine eigenen Rückschlüsse.
Für dieses szenische Ausloten eines großen und derzeit vielfach in der Diskussion stehenden Themas erhält sie den 3. Preis des diesjährigen Theaterfestivals „Freisprung“.
© Beate Nelken